EDUCATION PROJEKT 2023
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Samstag, 18. November 2022 | 15:30 Uhr, Festsaal
»DAS MÄRCHEN VOM MACHANDELBOOM«
Rolf Riehm: Machandelboom
In Kooperation mit der Abteilung Musik der Pädagogischen Hochschule Weingarten – Prof. Dr. Christoph Stange
Das Märchen vom Machandelboom erschien erstmals 1812 im Erstdruck der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Von Philipp Otto Runge auf plattdeutsch aufgezeichnet, ist es in seiner ursprünglichen Fassung auch in den nachfolgenden (teilweise entsprechend der bürgerlichen Moralvorstellungen umgearbeiteten) Druckausgaben der Märchen – inhaltlich fast unverändert und lediglich sprachlich redigiert – enthalten.
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Otto Ubbelohde: Illustration zum Märchen vom Machandelboom (1902)
Kurz zusammengefasst hat das Märchen folgenden Inhalt: Die fromme Frau eines reichen Mannes wünscht sich beim Schälen eines Apfels unter dem Wacholderbaum, wobei sie sich in den Finger schneidet, ein Kind so rot wie das Blut und so weiß wie der Schnee. Sie wird schwanger, stirbt bei der Geburt des Sohnes und wird unter dem Baum begraben.
Nach der Trauer heiratet der Mann eine Frau, mit der er gemeinsam eine Tochter hat, die aber den Stiefsohn hasst. Als einmal die Tochter einen Apfel will, bekommt sie ihn zunächst. Als sie aber darum bittet, dass ihr Bruder auch einen bekommt, nimmt die Mutter der Tochter den Apfel weg und sagt zu ihr, sie solle auf ihren Bruder warten. Als dieser sich aber in die Truhe mit den Äpfeln bückt, schlägt ihm die Stiefmutter mit dem Deckel den Kopf ab. Erschrocken setzt sie ihn wieder auf den Körper,
bindet ihm ein Halstuch um und setzt ihn mit dem Apfel in der Hand vors Haus. Sie veranlasst die Tochter, ihm, da er nicht antwortet, eine Ohrfeige zu geben. Der Kopf des Jungen fällt ab, das Mädchen ist zutiefst bestürzt. Die Mutter aber bereitet aus der Leiche des Knaben eine Mahlzeit, und die Tochter weint hinein. Der Vater ist traurig, als er hört, sein Sohn sei plötzlich zu Verwandten weggegangen, isst aber mit besonderer Hingabe die ganze Suppe.
Die Tochter sammelt die Knochen und legt sie weinend in ein Seidentuch unter den Baum. Da wird ihr leicht zumute, die Wacholderzweige bewegen sich wie Hände, und einem Feuer im Nebel entfliegt ein schöner Vogel. Der Vogel singt auf dem Dach eines Goldschmieds, eines Schusters und auf dem Lindenbaum vor einer Mühle. Für die Wiederholung des Liedes verlangt er eine Goldkette, rote Schuhe und einen Mühlstein. Dann singt er zu Hause auf dem Wacholderbaum, wodurch dem Vater wohl und der Mutter angst wird. Er wirft dem Vater die Kette um den Hals und der Schwester wirft er die Schuhe zu. Beide freuen sich darüber, sodass auch die Mutter hinausgeht; ihr wirft der Vogel jedoch den Mühlstein auf den Kopf und erschlägt sie damit. Da ersteht aus Dampf und Flamme der Sohn wieder, und der Vater und die Kinder setzen sich vergnügt zum Essen.
Das Märchen besteht aus der Überschichtung mehrerer archetypischer Mythen und verhandelt die Thematik der innerfamiliären Beziehungen auf radikale, geradezu brutale Weise. Rolf Riehm hat daraus ein Hörstück in 14 Teilen verfasst. Kaleidoskopartig montiert wendet er die Facetten der Geschichte um und legt tiefere Untergründe frei.
Prof. Dr. Christoph Stange, Leiter der Lehramtsstudiengänge für Musik an der Weingartner Pädagogischen Hochschule, bearbeitet als Forschungsschwerpunkt die Transformation von Musik in Bewegung . In einem Studierendenprojekt im Sommersemester 2023 hat er sich dieses Werks angenommen.
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Riehms Musik erschließt sich nicht beim ersten Hören. Wie der zugrundeliegende Märchentext, zerfällt das Werk in Schichten, die hyperkomplex miteinander verbunden sind. Die Musik um Tanzszenen zu
erweitern, ist ein Mittel, um neue Rezeptionsräume bei den Hörern zu eröffnen. Die Musik wird um eine weitere künstlerische Ausdrucksform bereichert und es entsteht ein Amalgam aus mehreren Künsten, das nicht mehr nur dem Hören zugänglich ist, sondern auch über den visuellen oder den kinästhetischen Sinn erfahren werden will. So kann beispielsweise, wenn wir die Musik sehen, ein unwillkürlicher innerer Bewegungsimpuls entstehen, der uns als Zuschauer – durchaus sehr körperlich – mit dem Gesehenen verbindet. Die Transformation von Musik in Bewegung gibt so ein erstes Interpretationsangebot als Brücke zum weiteren Verständnis.
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Auch den Studierenden ging es bei der Erarbeitung nicht primär um eine musiktheoretische Analyse, sondern um die Herstellung eines persönlichen Bezugs zur Musik, der aus einer Begegnung mit dem gesamten Körper herrührte. Den Körper einzubeziehen bürgt dafür, wirklich ein weites Spektrum der Sinne einzubeziehen. Das hat wiederum zur Folge, dass die Begegnung mit dieser - nicht ganz leicht zu rezipierenden Musik - nicht an der Oberfläche bleibt, sondern in die Tiefe geht: Sie geht zu Herzen und unter die Haut und wird Teil des Körpergedächtnisses, das den Moment weit überdauert. Solche Prozesse sind nicht direkt planbar. Wie alle gute Bildung ereignen sie sich. Wenn es jedoch gelingt, dann gehen die Akteure durch die Auseinandersetzung mit dem vormals Fremden verändert aus diesem Prozess hinaus. Gleichzeitig erfahren die angehenden Lehrerinnen und Lehrer, wie es wohl später ihren Schülern gehen wird, wenn sie mit Neuer Musik konfrontiert werden.
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Das Seminar fand im Juni 2023 an vier aufeinanderfolgenden Tagen in den Räumen der Hochschule statt. Studierende bringen in der Regel ein großes Repertoire an Alltagsbewegungen mit, ihre eigene Bewegungsbiographie2, selbst wenn sie vielleicht zuvor kaum Erfahrungen damit hatten, sich tänzerisch auszudrücken. Dies war Ausgangspunkt für ihre persönliche Arbeit mit Riehms Musik.
Die Vorbereitung zu den Tanzsequenzen erfolgte auf zweierlei Art: Zum einen wurden, anhand vertrauter Musik, Bewegungsabläufe mit Mitteln der Körperarbeit vorbereitet, zum anderen wurden die Symbole, die in der Geschichte enthalten sind, herausgearbeitet. Symbole haben vielfältige Bedeutungen. So kann das Symbol des Apfels den Reichsapfel bedeuten, Nahrung oder Gift, ein Liebessymbol, eine Allusion an Wilhelm Tell und noch manches mehr.
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Aus dem Zyklus wurde eine Auswahl von fünf einminütigen Sequenzen entnommen und anhand ihres Subtextes analysiert. Sie sind in den folgenden Abschnitten des Werks enthalten: Nr. 1: Erzähler / Nr. 3: Chor, einzelne Frau / Nr. 5: Mann mit gekünstelter Stimme / Nr. 9: Erzählerin, singend / Nr. 10: Erzähler, plattdeutsch.
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Aus den Überlegungen wurde mit dem Repertoire von Alltags- und Ausdrucksbewegungen eine Gruppen-Tanz-Collage kreiert. Dabei kamen vier im Märchen enthaltene Aspekte zur Umsetzung: Horror, naives Kind, seelische Distanziertheit und Traumatisierung. Die Symbole wurden in Form von Gegenständen in die Inszenierung mit einbezogen. Das Ergebnis wurde auf Video aufgezeichnet. Die Rückmeldungen der Studierenden deuten darauf hin, dass sich der Anspruch erfüllt hat, mit neuen Erfahrungen und insofern verändert aus diesem Seminar zu gehen. Es ist jetzt an jedem Zuschauer, sich von diesen künstlerischen Auseinandersetzungen affizieren und für die Musik Rolf Riehms öffnen zu lassen.